Sagenumwoben, sprichwörtlich, zwielichtig erscheint diese Judasgestalt. Eine Figur, die polarisiert. Um sie ranken sich unzählige Mythen. Einen poetischen Mythos fügen wir heute hinzu und wagen einen Blick in ihn hinein. Neben dem hörbaren Podcast gibt es diesmal auch den Text zum Nachlesen.
Da ging einer von den Zwölfen,
mit Namen Judas Iskariot,
zu den Hohenpriestern und sprach:
Was wollt ihr mir geben?
 Ich will ihn euch verraten.
Sie boten ihm dreißig Silberlinge.
Von da an suchte er eine Gelegenheit,
dass er ihn ausliefere. (Luther 2017*)
Und wenn sie mich sehen?
Was wenn Nächte mich nicht schützen
Blicke anfangen zu richten
Wohin sollte ich dann fliehen?
Und wenn sie mich hören?
Wie ich das ich noch teile
wie in Rausch und Angst verspiele
Wozu sollte ich es ehren?
Mir ist es zu unsicher geworden. Irgendetwas stimmt nicht. Der Rabbi dreht durch, sieht es nicht kommen oder will es nicht sehen. Sieht es niemand außer mir? Das nimmt kein gutes Ende. Nett war es, drei Jahre Himmelreich als Erdenbürger. Viel gelernt, noch mehr gesehen, dem Leben neue Bedeutung abgerungen. Verrückt, was er tat, verrückt, was er sagte. Attraktiv war es, komplett neu anzufangen. Diese stille Sehnsucht wusste er genau zu bespielen, also ging ich mit. Vielleicht war es unüberlegt. Vielleicht war es das wert. Kaum in Silber aufzuwiegen, geschweige denn in Gold. Jetzt das große Schweigen nach dem Reden.
Ich glaube, ich habe den Absprung verpasst. Es passte nicht mehr. Tolle Ideen, fantastisches Leben – nur zu radikal. Bleib mal auf dem Teppich, hätte ich am liebsten gesagt. Fahr mal einen Gang runter, Rabbi. Aber im Gegenteil. Kein Wunder. Kein Wunder, dass nach vielen Wundern, das eine Wunder in Wunden enden wird. Jerusalem, du großes Finale ohne Happy End. Ohne mich.
Und wenn sie mir glauben?
Wenn ich alles was, ich liebe
für ein paar Silberstücke gebe
Warum sollte ich nicht leben?
Und wenn sie mit mir fühlen?
wie Verzweiflung mich zerfrisst
mir kaum noch Luft zum Atmen lässt
Und wenn sie mit mir fühlen?
Und wenn sie mit mir fühlen?
Versteht mich denn keiner?
17 Aber am ersten Tag der Ungesäuerten Brote traten die Jünger zu Jesus und sprachen: Wo willst du, dass wir dir das Passalamm zum Essen bereiten? 18 Er sprach: Geht hin in die Stadt zu einem und sprecht zu ihm: Der Meister lässt dir sagen: Meine Zeit ist nahe; ich will bei dir das Passamahl halten mit meinen Jüngern. 19 Und die Jünger taten, wie ihnen Jesus befohlen hatte, und bereiteten das Passalamm.
20 Und am Abend setzte er sich
zu Tisch mit den Zwölfen.
21 Als sie aßen, sprach er:
Wahrlich, ich sage euch:
Einer unter euch wird mich verraten.
22 Und sie wurden sehr betrübt
und fingen an, jeder einzeln zu ihm zu sagen:
Herr, bin ich’s?
 23 Er antwortete und sprach:
Der die Hand
mit mir
in die Schüssel taucht,
der wird mich verraten.
24 Der Menschensohn geht zwar dahin,
wie von ihm geschrieben steht;
doch weh dem Menschen,
durch den der Menschen-
sohn verraten wird!
Es wäre für diesen Menschen besser,
wenn er nie geboren wäre.
25 Da antwortete Judas,
der ihn verriet, und sprach:
Bin ich’s,
Rabbi?
Er sprach zu ihm:
Du sagst es. (Luther 2017*)
Zum Essen hat er eingeladen. Ich ahne, dass es das letzte Mal sein wird. Merkwürdige Stimmung im Raum. Jerusalem, du großes Finale. Aber was redet er da? Einer von uns? Wie kommt er darauf? Er hat uns doch selbst ausgesucht. Aus unseren Reihen nun sollte der kommen, mit dem sein Ende eingeläutet wird? Das kann ich nicht glauben. Wir glaubten doch an ihn, wir alle. Sind ihm bedingungslos gefolgt. Haben alles aufgegeben. Warum sollte einer von uns jetzt ihn aufgeben – wo wir außer ihm doch nichts mehr haben!
„Nein, Petrus, ich weiß nicht, wen er meint!“ Andreas vielleicht? Thomas? Kann ich mir nicht vorstellen. Was bezweckst du damit, Rabbi, frage ich mich? Dass wir uns untereinander verdächtigen? Warum? Es könnte jeder von uns sein, weil es eigentlich niemand sein kann. Klar, wir haben uns alle immer wieder gefragt, wohin das führt. Jerusalem, du großes Finale. So haben wir immer wieder gesagt ohne auch nur zu ahnen, was es tatsächlich bedeuten oder dass es eines Tages wirklich so weit sein könnte. Haben wir es alle so ernst gemeint? „Bin ich’s, Rabbi?“ Beim besten … bitte was??? Ich?
Und wenn er mich sieht?
Der mir alles, was ich hoffte
so zum Greifen nah mir brachte
Und wenn er mich hört?
Der mir alles, was ich brauchte
mitten in mein Herz mir senkte
Und wenn er mit mir fühlt?
Was, wenn er mit mir fühlt?
Wenn er meine Unsicherheit spürt?
Wenn er meinen Zweifel leidet?
Wenn er in meinem Scheitern scheitert?
Wenn er meiner Unkontrolliertheit begegnet?
An meinen Brüchen mit zerbricht?
Sich von meinen Wunden verwunden lässt?
Was, wenn er fühlt,
wie sehr mein Verrat mich selber schmerzt?
wie sich anfühlt zu merken: Ich bin’s.
Und wenn ich ihn sehe?
Ihn, den einen »ICH BIN’S«.
Neben mir.
Einfach da.
Weiß es und sagt: Komm.
Iss. Und trink.
Du brauchst es am meisten.
* Mit leichten Änderungen.
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