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Ein Neujahrsspaziergang

In unserem zoom-Gottesdienst am 10. Januar hat Sebastian Domke uns von seinem Neujahrsspaziergang erzählt. Hier könnt ihr den Text noch einmal nachlesen.


Am Neujahrsmorgen machte ich mich auf den Weg in den Wald. Als Kind habe ich solche Schneetage öfter erlebt. Selten wie sie heute sind, und majestätisch, wie mich die Baumriesen umfingen, hörte ich auf zu denken und genoss jeden knirschenden Schritt.

In der Jackentasche steckte das Büchlein »Briefe an einen jungen Dichter« von Rainer Maria Rilke, und nachdem ich einige Minuten über den Waldweg geschlurft war, schlug ich es auf und las den ersten Brief Rilkes an den angehenden Dichter Xaver Kappus. Immer wieder blieb ich an einer Stelle hängen.

»Die Dinge sind alle nicht so fassbar und sagbar, als man uns meistens glauben machen möchte; die meisten Ereignisse sind unsagbar, vollziehen sich in einem Raume, den nie ein Wort betreten hat …«

Vielleicht meinte er damit auch Ereignisse wie diesen weißen Zauber, der die Geräusche der Welt schluckte. Heute hing der Himmel grau und trüb über mir, aber in meiner Brust trommelte die Lebenslust im Stakkato. Breit lächelnd begrüßte ich das Jahr und wünschte jedem, dem ich begegnete, ein frohes Neues.

An einem Windrad angelangt, blickte ich über Täler und weiß bedeckte Wiesen, so weit wie das Auge reichte. Dann verharrte ich und lauschte. Einige Minuten lang hörte ich nichts. Und wieder musste ich an Rilkes Worte denken, denn dies musste einer dieser unsagbaren Momente gewesen sein, von denen er gesprochen hat. Ich hätte versuchen können, den Schnee zu beschreiben, wie er sich still von den Zweigen der Rotfichten löste, in lockeren Wirbeln tanzend niederging und am Wegesrand seinen weißen Teppich wob. Ich hätte versuchen können zu beschreiben, wie eine Schneeflocke auf meiner Unterlippe zerging und ein behagliches Kribbeln entfachte. Ich hätte versuchen können zu beschreiben, wie die laute  Welt aus der Zeit gefallen war, für eine Weile verstummte, wie eine Flocke nach der anderen gemächlich fiel, die Minuten der Erde schlagend, ihre Stunden, Tage und Jahre. Ich hätte versuchen können zu beschreiben, wie ich auf dem Rückweg einen Spaziergänger antraf, der eine leichte Stoffhose und einen Wollpullover trug, jedoch keine Jacke, wie er das Gesicht zum Himmel reckte und mit russischem Akzent »Hoach, so ein schönes Wetter« rief und lachte. Ein Mann, der den Schneefall wie ein kleines Kind feierte. Ich hätte versuchen können zu beschreiben, wie zwei Menschen, jeder die Welt des anderen, Hand in Hand durch das Weiß stapften. Ich hätte versuchen können zu beschreiben, wie gegensätzlich diese stille Welt zu unserer lauten mit all ihren Autos, Handys, Computern, Maschinen und Fernsehern ist, aber es wäre mir nicht gelungen.

Letztlich glaubte ich, dass ich Zeuge unsagbarer Ereignisse geworden war, vollzogen in einem Raum, den noch nie ein Wort betreten hat. Heute, eine Woche später, zweifele ich an meiner Einschätzung. Vielleicht gab es da doch ein Wort, das leise hineingekommen war.

Gottes Wort.

Wenn dies nicht Gottes Wort gewesen war, dann hat Gott noch nie gesprochen.